Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.
Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Liebe Cottbuserinnen und liebe Cottbuser,

Das sind Worte des evangelischen Pfarrers Martin Niemöller.
Im Jahr 1946 räumte er öffentlich ein, angesichts des Schicksals der Opfer des Nationalsozialismus anfangs passiv und gleichgültig gewesen zu sein.
1937 wurde er selbst von den Nazis verhaftet.
Er forderte die Deutschen nach dem Krieg auf, persönliche Verantwortung zu übernehmen.

Vor einigen Tagen haben 25 SPD-Bundestagsabgeordnete mit familiärer Einwanderungsgeschichte gefordert, ein Verbot der AfD zumindest gründlich zu prüfen.

Zu einem solchen Verbotsverfahren kann man unterschiedlicher Meinung sein.
Aber es leuchtet mir unmittelbar ein, dass Menschen mit einer familiären Einwanderungsgeschichte von den Enthüllungen über rechtsextreme Netzwerke und ihre Pläne ins Mark getroffen sind.

Und: Wir, die wir hier stehen, viele von uns, wären von diesen menschenfeindlichen Plänen genau so betroffen. Zum Beispiel als Menschen, die Geflüchteten helfen. Darum sage ich: Auch mich haben diese Pläne ins Mark getroffen – und das, obwohl sie mich eigentlich gar nicht hätten überraschen dürfen.

Was der Rechtsstaat im Einzelnen tun kann, muss gründlich geprüft werden.
Aber ich frage mich schon, was eine Partei denn noch sagen und tun muss, damit ein Verbotsfahren eröffnet wird.
Ich frage mich schon, was Faschisten wie Björn Höcke denn noch sagen oder tun müssen, damit ein Antrag auf Grundrechtsverwirkung gestellt wird.

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben doch diese Möglichkeiten nicht ohne leid- und schuldgesättigte Erfahrung ins Grundgesetz geschrieben.

Und wenn die Demokratie einmal demontiert worden ist, gibt es so oft kein Halten mehr. Die Nazis haben Millionen Jüdinnen und Juden umgebracht. Sie hätten später mit Wendinnen und Wenden dasselbe getan. Die Pläne waren da. Sie sind bekannt.

Darum erinnere ich an Martin Niemöllers Worte und wiederhole: „Nie wieder ist jetzt!“ Darum sind wir hier. Wir sind viele, aber immer noch zu wenige.
Wir können sagen: Wir sind laut. Wir sind nicht zu überhören. Ja, gut. Aber das kann nur der Anfang sein.

Nach dem Laut-Sein muss das Argumentieren kommen, der mutige Widerspruch gegen rassistische Hetze, die kluge Entlarvung von Fake-News (das macht Mühe und kostet Zeit).

Nach dem Laut-Sein muss das Zuhören kommen. Menschen sind ja wirklich verstört und verängstigt in dieser Zeit. Und auch gute Entscheidungen gewählter Parlamentarier und verantwortlicher Politikerinnen können Zumutungen auslösen, über die wir sprechen müssen.
Menschen, die aus der AfD ausgestiegen sind, hatten oft diesen Grund: Dass jemand ihnen zugehört und sie überzeugt hat. Sie haben erkannt, dass sie auf einem falschen Weg waren.

Nach dem Laut-Sein muss harte Arbeit kommen. Der Diskurs der demokratischen Parteien um die besseren Konzepte. Mit Argumenten geführte Wahlkämpfe. (Bei denen dürfen auch Menschen unterstützen, die keine Parteimitglieder sind.) Es ist nicht genug, dass Parteien einen Wahlsieg der AfD verhindern wollen. Sie müssen unterscheidbare Profile und Lösungsansätze anbieten. Es muss sich lohnen, dass ich vergleiche und mich entscheide.

Das alles muss wirklich aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Darum können unsere Demonstrationen hier in Cottbus und in vielen Städten nur der Anfang sein.

Ein anderer evangelischer Pfarrer hat in einem aktuellen Text ein Glaubensbekenntnis in unsere Zeit übertragen.

Darin schreibt er, dass die Kirche oft weiß, was dran wäre,
aber manchmal Starthilfe braucht.

Und wir als Zivilgesellschaft brauchen auch oft diese Starthilfe!
Wie oft hören wir rassistische Sprüche, falsche Darstellungen,
lieblose Vereinfachungen und denken: Ich habe keine Lust auf eine Diskussion.
Wir wissen meistens eigentlich, was zu tun wäre.
Zumindest die klare, aber freundliche Ansage:
„Ich teile Ihre Meinung nicht. Das sage ich, obwohl jetzt keine Zeit ist, darüber zu reden.“
Das geht immer. Aber es braucht Mut. Es braucht Entschlossenheit.
Wir brauchen so oft Starthilfe.

Wir als Kirche denken oft in langen Zeiträumen,
aber oft ist es auch notwendig, ganz konkret aktiv zu werden und sich mit Transparenten oder Kerzen auf eine Demo zu stellen.
Wir sollten uns um das Hier und Jetzt kümmern.
Und das bedeutet für mich hier und jetzt gerade,
nein zu sagen zum Hass und zur Gewalt der AfD und ihrer UnterstützerInnen.

Vielen Menschen aus der Mitte der Gesellschaft ist das Demonstrieren nicht in die Wiege gelegt worden.
Nicht jede ist als Gewerkschafterin geboren worden.
Viele Menschen denken auch, die Kirche müsse unpolitisch sein.
Ich sage: Nein. Jesus war alles andere als unpolitisch.
Wir müssen uns öffentlich zeigen.
Die amtierende Ratsvorsitzende der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs,
hat in Hamburg vorgestern gesagt:
„Die Mehrheit bricht ihr Schweigen, und das wird höchste Zeit!“
Und dass wir unser Schweigen brechen, muss überall wahrgenommen werden.
Dafür brauchen wir den öffentlichen Raum.

Meine Vision, wenn wir an das Anfangszitat zurückdenken: In zehn Jahren können wir sagen:

Als die Nazis massenweise Menschen mit Einwanderungsgeschichte aus dem Land verdrängen wollten, haben wir nicht geschwiegen.

Wir sind aufgewacht. Die Mehrheit hat ihr Schweigen gebrochen. Und das wurde höchste Zeit!

Gemeinsam haben wir die Kraft gefunden, Grenzen für Hass und Gewalt zu setzen, neu aufeinander zuzugehen. Wir haben die Demokratie verteidigt. Es gibt sie noch immer!