Predigttext___________________________________________

Lukas 22, 47-53

Der Predigttext wird im Verlauf der Predigt gelesen.

Predigt______________________________________________

– es gilt das gesprochene Wort –

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Gemeinde: Amen.

Bei der Wahl des Namens für ein Kind geben sich Eltern oft große Mühe und beweisen dabei erstaunliche Kreativität. Jedoch ist längst nicht alles erlaubt, was gefällt. Das deutsche Namensrecht schließt Vornamen aus, die dem Kindeswohl widersprechen, weil sie entweder lächerlich klingen oder aber negativ vorgeprägt sind. Als lächerlich gelten zum Beispiel die Namen Möhre oder Schnucki. Negativ besetzt sind unter anderem Namen wie Störenfried, Satan oder Judas. Wer also sein Kind Judas nennen wollte, würde bei den deutschen Standesämtern auf Widerstand stoßen. 

Das leuchtet auch ohne weiteres ein. Denn Judas ist mehr als ein Name. Judas ist geradezu ein Synonym geworden für Treulosigkeit und gemeinen Verrat. Das liegt an einem einzigen Träger dieses Namens: An Judas Iskariot, dem Verräter Jesu. Dass in biblischer Zeit der Name Judas unbelastet und außerdem weit verbreitet war, wird darüber häufig vergessen. Unter den zwölf Aposteln gab es noch einen zweiten Jünger dieses Namens, Judas Thaddäus. Auch ein leiblicher Bruder Jesu hieß Judas. Und schließlich sei an Judas Makkabäus erinnert, der im zweiten vorchristlichen Jahrhundert den nach ihm benannten jüdischen Aufstand gegen die Seleukiden anführte. Judas war also zu jener Zeit ein gängiger jüdischer Vorname wie heute bei uns Finn oder Leonie. Aber seit Judas Iskariot haftet diesem Namen ein negativer Beigeschmack an. Judas – nein, mit diesem Namen täte man seinem Kind wahrhaftig keinen Gefallen. 

Denn Verrat gilt unter uns als eines der schlimmsten Verbrechen. Es hat mit dem Missbrauch von Vertrauen zu tun. Es ist ein Loyalitätsbruch. Ich denke zum Beispiel an GünterGuillaume, den persönlichen Referenten von Bundeskanzler Willy Brandt, der Staatsgeheimnisse an die DDR verriet. Oder an Stasi-Zuträger, die ihre eigenen Familienmitglieder oder Menschen aus ihrer Kirchengemeinde oder Arbeitskollegen verrieten. 

Der Sonntag Okuli hat seinen Namen vom Beginn des Wochenpsalms. In Psalm 34 heißt es: Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten. Wie sehen die Augen Gottes wohl auf den Verräter Judas? Auf einen Günter Guillaume oder auf den IM von damals nebenan? Wir wissen es nicht. Das ist vielleicht gut so.

Nicht immer ist die Sache so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Was ist mit dem gescheiterten Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der davon überzeugt war, als gemeiner Verräter in die deutsche Geschichte einzugehen? Heute wird er als Vorbild an Zivilcourage gefeiert. 

Wie sehen die Augen des Herrn ihn?

Und es gibt Beispiele, in denen es gar nicht eindeutig ist. Der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur wurde nach der Wende als informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt. Bestimmt hat er Schuld auf sich geladen. Trotzdem haben sich viele Inhaftierte, Männer, die in der DDR den Wehrdienst total verweigert haben, an ihn erinnert als an einen warmherzigen, zugewandten Menschen, der ihnen wirklich sehr geholfen hat. 

Zum Glück wissen wir nicht, wie die Augen des Herrn auf den einen oder anderen sehen, den wir als Verräter betrachten. 

Bei Judas Iskariot gibt es für gewöhnlich keine zwei Meinungen. Schließlich hat dieser Mensch nicht irgendeinen Menschen ans Messer geliefert, sondern Jesus. Und dies für schnöden Mammon, für dreißg Silberlinge, den Gegenwert eines kleinen Ackers. Und dann verriet er ihn auch noch durch einen Kuss. Geht es noch infamer? 

Wir hören Verse aus dem 22. Kapitel des Lukasevangeliums.

Als Jesus noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.

Judas, der Verräter, der Habgierige. Judas, der Heuchler. Er scheut sich nicht, höchstpersönlich das Sondereinsatzkommando anzuführen, das gekommen ist, um seinen Herrn und Meister zu verhaften. 

Welche Strafe wäre wohl angemessen für eine solche Tat? In Dantes „Die göttliche Komödie“ werden Strafen in grausiger Weise ausgemalt. In der Kunst ist das vielfach gemalt worden. Aber stimmt das gängige Urteil über Judas wirklich? Die Geschichte weist einige Ungereimtheiten auf. 

Zum Beispiel: Sollte Judas wirklich aus purer Habgier seinen Verrat begangen haben? Er war schließlich der Kassenwart der Jüngerschar. Er wird als besonders vertrauenswürdig gegolten haben. Und wenn es ihm nur ums Geld gegangen wäre, hätte er einfach mit der Kasse durchbrennen können. Und dann der Kuss. Bei Lukas kommt es gar nicht dazu, weil Jesus ihn schon vorher zur Rede stellt. Aber dieser Kuss war auch gar nicht nötig. Die ihn da verhaften wollten, kannten Jesus ja von seinen Auftritten im Tempel. Dass Judas sie zu ihm führte, reichte ja völlig aus. 

Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten. Ob Gott Judas wohl ganz anders sieht?

In dem Musical Jesus Christ Superstar, in Theaterstücken der Gegenwart, im theologischen Gespräch gibt es auch eine ganz andere Sicht auf Judas Iskariot. Er mag sich gedacht haben: 

„Wenn ich Jesus in eine Lage bringe, in der er gezwungen ist, endlich Farbe zu bekennen, dann wird der Umsturz gelingen. Angenommen: Jesus ist wirklich der Messias; dann braucht er vielleicht nur einen kräftigen Stoß um aus der Deckung zu kommen und den Römern öffentlich die Stirn zu bieten. Ich muss es versuchen.“ 

Diese Interpretation wird gestützt durch den Beinamen des Judas: Iskariot. Das könnte ein Indiz sein, dass Judas zu den Sikariern gehörte. Die Sikarier – was so viel heißt wie „Dolchträger“ – waren, ähnlich wie die Zeloten, eine militante antirömische Gruppierung. 

Letztlich werden wir nie erfahren, was Judas angetrieben haben mag. Es bleibt Gottes Geheimnis, wie er ihn sieht. Ob seine Augen auf ihm ruhen als auf einem Gerechten?

Dass einer der Jünger dem Knecht des Hohenpriesters das Ohr abschlägt, könnte noch ein Indiz dafür sein, dass mit dem Anstoß des Judas auch für andere Jünger der Aufstand ausgelöst war. 

Jesus bietet ihnen Einhalt. Jesus stellt sich der Situation und wir wissen, wie es weitergeht. Kein Aufstand. Jesus geht seinen Weg ans Kreuz. Der Kelch geht nicht an ihm vorüber und die Augen des Herrn haben viel Anlass, nachsichtig zu sein. 

Denn was ist mit den Jüngern im Garten, die es nicht geschafft haben, Jesus beizustehen. Ist das nicht auch ein Verrat durch Nichtstun, durch Kraftlosigkeit? Haben sie erfasst, worum es ging? Eher haben sie doch alle nicht verstanden, welchen Jesus gehen musste und dann auch gehen wollte. Und dann ist da noch Petrus, der Jesus drei mal verleugnen wird. Und wir? 

Auch in jedem von uns steckt ein kleiner Judas. Verrat gehört zum menschlichen Alltag dazu. Und Nichtstun, Kraftlosigkeit, Gleichgültigkeit. Nehmen wir nur die Frage von Gewalt oder Gewaltlosigkeit. Ja, schon der Kirchenvater Tertullian schreibt ganz zu Beginn der Kirchengeschichte: „So hat doch der Herr in der Entwaffnung des Petrus jedem Soldaten den Degen abgeschnallt.“ Wenn es so einfach wäre. Wenn wir einfach zusehen würden, wie die Menschen in der Ukraine getötet, vertrieben, deportiert werden, dann wäre das auch Verrat. Und wo war unsereEmpörung, unsere Angst, unser Mitgefühl, als Putin die Krim überfallen hat. Wo war sie, als die Jesiden fast ohne Hilfe ihren Feinden überlassen wurden? Ja, es gibt keine einfachen Lösungen. Und das einzige, was ganz sicher ist, ist, dass wir aus den Konflikten unserer Zeit nicht ohne Schuld herausgehen. 

Der Psychoanalytiker Erich Fromm hat es einmal so auf den Punkt gebracht: „Wenn ich mich selbst erlebe, dann erkenne ich, dass ich auch nicht anders bin als jeder andere Mensch, dass ich der Sünder, der Heilige, der Hoffende und der Verzweifelnde bin.“ Er hat Recht. Und Judas ist nicht der große Ausnahmefall. 

Aber was folgt daraus? Sicher folgt daraus, dass wir alle auf Vergebung angewiesen sind, wenn die Augen des Herrn auf uns sehen. Aber auch das kann wiederum kein Freibrief dafür sein, keine Position zu beziehen, nichts zu tun. Im Gegenteil. Als Christin, als Christ, weiß ich, dass ich auf Vergebung hoffen kann. Ich weiß aber auch, dass Gott mir etwas zutraut. Das hat er uns in Jesus und in seinem Ruf zur Nachfolge ja nun sehr deutlich gezeigt. Und darum müssen wir immer wieder ringen um den richtigen Weg in den vielen ethischen Herausforderungen, die jede Zeit mit sich bringt. Beten für den Frieden – das ist etwas genuin Christliches. Nach Alternativen zur Gewalt, zum Krieg, zur bewaffneten Auseinandersetzung suchen. Ja, auf jeden Fall. Hoffentlich denken wir daran, wenn dieser Krieg in der Ukraine zu Ende ist. Hoffentlich denken wir daran und stellen nicht unseren Wohlstand immer wieder über alles andere. 

Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten. 

Es ist nicht verboten, sich nach Gott auszustrecken, zu den Gerechten gehören zu wollen. Und es ist tröstlich zu wissen: Ich kann auf Vergebung hoffen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alles, was wir zur Sache des Friedens zu denken wagen, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.     

Gemeinde: Amen.

Diese Predigt enthält Gedanken und Formulierungen aus einer Predigt von Pfarrer Dr. Arnd Herrmann und aus einer Predigt von Pfarrer Christian Sparsbrod.