– es gilt das gesprochene Wort –

Predigttext: 1. Timotheus 3, 16

Groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

Predigt

Liebe Nacht-Gemeinde hier in der Klosterkirche!

Diese Nacht ist eine ganz besondere Nacht. Und wir, die wir hier versammelt sind, sind eine besondere Gemeinde. So kommen wir das ganze Jahr über nicht wieder zusammen. Viele von uns haben Wurzeln in dieser immer wiederkehrenden Nacht. Irgendwann einmal sind wir nicht mehr oder nicht nur zum Krippenspiel gegangen. Irgendwann war dem einen oder der anderen von uns dieser Nachtgottesdienst wichtiger als eine Christvesper. Oder vielleicht war es überhaupt der erste Gottesdienst, den wir jemals betreten haben, weil uns eine Ahnung herführte von dem, was in dieser Nacht geschehen ist. Wir kommen zu dem Kind in der Krippe, wir kommen in die Atmosphäre dieser Kirche. Die Geborgenheit und die Vertrautheit dieser Kirche und dieser Nacht treffen unsere eigene Sehnsucht nach Geborgenheit. Manche kommen nur einmal im Jahr hierher, leben längst ganz woanders, treffen in diesen Tagen und vielleicht auch in diesem Gottesdienst alte Freunde, Familienangehörige, Menschen, mit denen sie das ganze Jahr über nur durch Telefonate, Emails oder SMS verbunden sind. Uns verbindet das Bedürfnis, nach dem Trubel und der Hektik, die bis in diesen Tag hineinreichten, uns fallen zu lassen in das Geschehen dieser Nacht. Wir möchten singen und uns singen hören. Allein und doch in einer großen Gemeinschaft. In dieser Nacht haben wir Wurzeln, die uns tragen und halten, nicht nur heute. Es gehört zur Eigenart von Wurzeln, dass ihr größter Teil für uns unsichtbar bleibt und wir nicht einmal genau sagen können, wie sie verlaufen und woher sie ihre Nahrung beziehen, obwohl sie uns halten und nähren. Einem Baum geht es am besten, wenn seine Wurzeln im Verborgenen bleiben können, nicht freigelegt werden. Und so wollen wir auch heute in dieser Nacht nicht freilegen, was uns denn genau und warum hierher führt. Das Vertraute begegnet uns. Mehr muss nicht sein. Was gehört dazu? Die Weihnachtsgeschichte. Fast hat sie eine Melodie, so vertraut ist sie. Und die Melodien des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach schleichen sich für manchen beim Hören der Worte aus dem Lukasevangelium schon von ganz allein mit hinein. Die Lieder. Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesu, du mein Leben. O Bethlehem, du kleine Stadt. Die wunderbar verhaltenen und dann auch jubelnden Melodien. Die alte Holzkrippe schließlich mit der brennenden Kerze. Vieles ist so offensichtlich. Es ist schön, Wurzeln zu haben. Es ist schön, dass einfach da ist in dieser Nacht, was wir suchen. Jetzt müssen wir nichts mehr tun, keine Erwartungen mehr erfüllen, nur einfach da sein in der Gegenwart Gottes. Vertrauen und Geborgenheit.

Was ist aber, wenn die Botschaft dieser Nacht auch über den kommenden Tag hinaus halten soll? Kann sie das? Viele Menschen, vielleicht auch gar nicht so wenige unter uns in dieser Kirche, kommen das ganze Jahr über auch ganz gut ohne Kirche aus. Viele von uns fragen sich vielleicht, ob diese Erde in Wirklichkeit nicht doch eine Gegend ohne Gott ist. Das Sprechen von Gott, das Singen, das Beten zu Gott scheint schwieriger geworden zu sein in diesem zu Ende gehenden Jahr 2024. Die schrecklichen Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten und an so vielen Orten dieser Welt; der Klimawandel, dem wir immer noch nicht angemessen begegnen, weil wir uns immer noch als Herren der Schöpfung aufspielen und nicht verinnerlichen, dass wir Teil dieses ganzen komplizierten und wunderbaren Systems sind und nun auch noch Magdeburg. Gott wird ganz leise Mensch. Gott wird ganz leise Mensch, wenn Menschen zu Menschen werden. Gott wird ganz leise Mensch, wenn Menschen trotz so viel Tod und Hass und Verletzung – wie in Magdeburg geschehen – den Willen zum Frieden und zur Verständigung festhalten. Menschen stehen zusammen in ihrer Trauer und lassen sich nicht zum Hass verführen. So wird Gott Mensch.

Ja, wir könnten aus der Haut fahren. Wir könnten jeglichen Glauben an Gott und an eine Hoffnung auf Frieden verlieren. Oder: Wir können glauben: Gegen die Erfahrung der Abwesenheit oder der Fremdheit Gottes setzt Weihnachten eine klare Botschaft. Ein wehrloses kleines Kind kommt in einer Notunterkunft zur Welt. Und in diesem Kind kommt Gott zur Welt. Gott spricht zu mir: In deiner Haut möchte ich stecken. Ich will dir nahe sein – so nahe, wie eine Haut, die dich umgibt.

Wenn also gefragt wird: Wo steckt Gott heute in unserer Welt mit all ihren Problemen und Krisen, mit ihrem Unfrieden, aber auch mit ihren schnellen Entwicklungen und großen Möglichkeiten des Menschen, dann lautet unsere Antwort als Christinnen und Christen: Gott, der Unnahbare und Unbegreifliche, ist Mensch geworden. Der Mensch ist das Einfallstor Gottes in unsere Welt. Er ist nicht länger ein Gott oben überm Sternenzelt. Er ist ein Gott unten, inmitten von uns Menschen.

Damals waren es die Hirten, die diese Botschaft zuerst hörten. Menschen mit wenig Perspektive und Achtung, arm. Sie hatten kaum Wahlmöglichkeiten in ihrem Leben. Zu ihnen hat Gott in dieser Nacht gesagt: In deiner Haut möchte ich stecken, du Hirte Ruben. Du bist es wert. Weil ich dich liebe, bin ich Mensch geworden.

Heute ist es vielleicht Ines aus ihrer Marktbude in Magdeburg, die bis Freitag ihrer harten, kalten Arbeit nachgegangen ist und sich auf Weihnachten gefreut hat mit der Familie und vor allem im Warmen. Seit Freitag gehen ihr die Bilder nicht aus dem Kopf von schreienden und flüchtenden Menschen, die Bilder von Tod und Verletzung. Zu ihr sagt Gott in dieser Nacht. In deiner Haut möchte ich stecken, Ines. Du bist es wert. Weil ich dich liebe, bin ich Mensch geworden.

Heute ist es vielleicht Bernhard, der kurz vor Weihnachten eine schlimme Diagnose bekommen hat. Vielleicht wird es sein letztes Weihnachtsfest sein. Alle können es noch nicht begreifen. Er auch nicht. Zu ihm sagt Gott in dieser Nacht. In deiner Haut möchte ich stecken, Bernhard. Du bist es wert. Weil ich dich liebe, bin ich Mensch geworden.

Aber Gott kam ja in dieser Nacht nicht nur zu den Armen, den Verzweifelten. Ja, er kam in einem Stall zur Welt, unter ärmlichen Verhältnissen. Aber neben den Hirten standen die Sterndeuter oder die Könige mit ihren wertvollen Geschenken. Sie haben die Botschaft auch gehört und auch für sie war sie bestimmt.

Und so sagt Gott heute auch zu Marvin und Anna, die sich vor zwei Wochen kennengelernt haben und gar nicht verstehen, warum sie Weihnachten nicht zusammen verbringen können – zu diesem frisch verliebten Paar. In deiner Haut möchte ich stecken, Marvin, und in deiner, Anna. Ihr seid es wert. Weil ich euch liebe, bin ich Mensch geworden.

Die Botschaft von Weihnachten ist eine gute Botschaft. Sie geht ins Herz. Sie erreicht viele von uns in dieser Nacht. Ob sie über den kommenden Tag hinaus halten wird? Wir haben es nicht in der Hand. Im 1. Timotheusbrief heißt es: Groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens. Und dann heißt es weiter von dem Kind in der Krippe:

Er ist offenbart im Fleisch,

gerechtfertigt im Geist,

erschienen den Engeln,

gepredigt den Heiden,

geglaubt in der Welt,

aufgenommen in die Herrlichkeit.

Ein Geheimnis können wir nicht intellektuell ergründen, wir können nicht erzwingen, dass wir daran glauben. Wir können es nur staunend hören und unser Herz dafür öffnen. Wir können uns dem Geheimnis nur nähern, indem wir zur Krippe kommen und können Augen und Herzen offen halten. Gott steckt in deiner Haut. Das ist gewiss. Ob du es spüren, ob du damit leben kannst, ob es dein Leben verändert, ob es dir selbst gelingt, wie Gott Mensch zu werden – das wird die Zukunft zeigen. Eine große Hoffnung ist mit dieser Nacht in die Welt gekommen. Lasst uns von ihr singen mit den leisen und jubelnden Worten und Tönen des englischen Weihnachtsliedes „O Bethlehem, du kleine Stadt“.

Vielleicht gehört die Botschaft von Weihnachten ja längst zu deinen Wurzeln, gehört zu dir und du weißt es nur manchmal. Und dann auch wieder nicht. Gott steckt in deiner Haut. Das gehört zu dir.                                     Amen.