Christnacht 

24. Dezember 2022 – 23.00 Uhr 

Klosterkirche zu Cottbus  

 

– es gilt das gesprochene Wort – 

 

Predigttext: Hesekiel 34, 

 

Der Predigttext ist im Verlauf der Predigt abgedruckt.

Liebe Nacht-Gemeinde hier in der Klosterkirche! 

Wir sind gekommen in dieser Heiligen Nacht. Wir haben gehört: die alte Geschichte, die immer neu bleibt und immer neu wird. Sie wird uns auch in dieser Nacht guttun.

Wie Ihr Tag, wie Euer Abend war, das weiß ich nicht. Aber hier in dieser Kirche sind wir alle richtig. Wie schön, dass Sie da sind. Wie schön, dass wir wieder hier in der Kirche sein können. Die Erinnerung an den Gottesdienst am Hirtenfeuer im vergangenen Jahr draußen auf dem Klosterplatz, in Kälte und Schneeregen – die bleibt uns. Das war auch etwas Besonderes. Aber heute wieder hier. Ich freue mich darüber, dass wir diesen besonderen, oft schönen, manchmal auch etwas schwierigen Tag gemeinsam beschließen. 

Jetzt kommt die Nacht, die Heilige Nacht. Und mit einem guten Traum wollen wir in diese Nacht gehen. Ich habe einen alten, wunderbaren Traum mitgebracht. Es ist ein Traum des Propheten Hesekiel, mehr als 2500 Jahre alt und zugleich ein Menschheits-traum, der immer weiter geträumt werden soll. Wir sehen einen alten Mann, den Hesekiel, wie er nach einem Krieg hunderte Kilometer von zu Hause in Gefangenschaft sitzt und es ihm allmählich klar wird, dass er sein Zuhause nie wieder sehen wird. Gott spricht zu ihm in der Nacht, und früh am Morgen hat er alles aufgeschrieben. Ich lese uns das einmal vor:

Ich will ihnen einen einzigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nämlich meinen Knecht David. Der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein, und ich, der HERR, will ihr Gott sein. Und mein Knecht David soll der Fürst unter ihnen sein; das sage ich, der HERR. Und ich will einen Bund des Friedens mit ihnen schließen und alle bösen Tiere aus dem Lande ausrotten, dass sie sicher in der Steppe wohnen und in den Wäldern schlafen können. Ich will sie und alles, was um meinen Hügel her ist, segnen und auf sie regnen lassen zu rechter Zeit. Das sollen gnädige Regen sein, dass die Bäume auf dem Felde ihre Früchte bringen und das Land seinen Ertrag gibt, und sie sollen sicher auf ihrem Lande wohnen und sollen erfahren, dass ich der HERR bin, wenn ich ihr Joch zerbrochen und sie errettet habe aus der Hand derer, denen sie dienen mussten. Und sie sollen nicht mehr den Völkern zum Raub werden, und kein wildes Tier im Lande soll sie mehr fressen, sondern sie sollen sicher wohnen, und niemand soll sie schrecken. Und ich will ihnen eine Pflanzung aufgehen lassen zum Ruhm, dass sie nicht mehr Hunger leiden sollen im Lande und die Schmähungen der Völker nicht mehr ertragen müssen. Und sie sollen erfahren, dass ich, der HERR, ihr Gott, bei ihnen bin und dass die vom Hause Israel mein Volk sind, spricht Gott der HERR. Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.

Liebe Nacht-Gemeinde hier in der Klosterkirche! 

Ich finde: Es ist ganz schön schwer, das tägliche, das normale Leben gut hinzubekommen. Mit der Arbeit und dem Geldverdienen, mit der Liebe und mit der Partnerschaft, mit der Familie. Den Kindern gute Eltern sein, den alten Eltern ein selbst groß gewordenes Kind bleiben. Mit der Gesundheit und der Krankheit, der Miete, den Energiekosten und der Steuererklärung, mit Prüfungen und beruflichen Herausforderungen. Und wenn ich dann denke, ich hätte für einen Augenblick Ruhe oder für ein paar Tage Urlaub, dann gehen irgendwelche Sachen kaputt oder der TüV beim Auto ist abgelaufen oder die Arbeitstage vor dem Urlaub sind schon alle, die Arbeit aber noch lange nicht. Kennen Sie das auch? Mein Leben ist jedenfalls so, dass ich an den meisten Tagen des Jahres viel zu spät und todmüde ins Bett falle, froh und dankbar, dass ich zumindest einiges mal wieder so einigermaßen geschafft habe. 

Wenn dann noch was obendrauf kommt, ist das eigentlich nicht zu schaffen. Aber das kommt ohne dass ich gefragt werde. Ein Krieg – wie bei Hesekiel und heute. Tiere, die das Leben bedrohen. Große wie Löwen, kleine wie Viren. 

Wenn Kriege uns näher kommen und Pandemien nur langsam ein Ende nehmen oder sich verwandeln, dann ist es ja nicht so, dass die Alltagssorgen eine Pause machen. Das kommt ja immer noch dazu, immer noch obendrauf. Was müssen die Menschen in der Ukraine und in anderen Ländern, in denen Krieg ist, alles dafür tun, um einfach nur Wasser, Wärme und Nahrung zu haben, einfach ihr Leben zu retten. 

Da scheint es manchmal leichter, sich mit der Situation abzufinden, sich zu arrangieren, irgendwie durchzukommen, als einen Traum zu haben wie Hesekiel oder Martin Luther King oder Jesus, dessen Geburt wir heute feiern. Ich kann das so verstehen. Mir geht´s ja selber oft so, dass ich kaum noch Hoffnungen und Träume habe. Oder sie schon habe, sie aber unter so viel Alltag fast verschwinden. 

Wenn´s viel ist, ist das Schöne manchmal erst recht kaum noch zu schaffen. 

Und dann kommt so ein merkwürdig schönes Fest wie Weihnachten. Oder ich raffe mich doch zu einem Geburtstagsbesuch auf und bin für zwei Stunden plötzlich unter vielen netten und fröhlichen Menschen. Oder ich lese eine Geschichte, in der jemand seinen Traum gelebt oder jemandem die Hand gereicht hat. Oder ich bekommt mit, wie jemand vor meinen Augen sein Herz verschenkt gegen alle Vernunft und ohne eigenen Vorteil. 

Plötzlich und ohne Vorankündigung platzt dann in mein durchgeplantes und sorgsam abgesichertes Leben so ein Traum, so eine andere Wirklichkeit. Manchmal kommen mir dann die Tränen. Ich hatte die Erwartungen so runtergeschraubt und bin plötzlich glücklich und beschämt zugleich.

Mensch, denk´ ich: So geht´s doch auch! So wäre es doch viel schöner! 

Der alte Hesekiel fragt uns heute: Was wäre denn das für ein Leben? Den Kopf einziehen und hoffen, dass es mich nicht erwischt, und einfach immer weitermachen? Nein: Zu träumen und zu hoffen und aus Liebe einfach so wunderbare Dinge tun, das setzt der alte Mann dagegen. Das kommt nicht obendrauf. Das kommt unten drunter. Das ist die Basis. Da fängt Menschsein an.

Aus Liebe und einfach so wunderbare Dinge tun. Das ist pures Glück. Das ist wahre Schönheit. Das wird in Erinnerung bleiben. Das bleibt einmal von mir.

Und weil Gott gesehen hat, wie unendlich schwer wir uns mit dieser doch so einfachen und kleinen Sache tun, hat er selbst noch einmal klein angefangen. Das mit der Liebe kann man nämlich nicht erläutern. Und auch nicht verordnen. Auch Gott kann das nicht.

Gott fängt heute klein an. Ganz von vorne, als Neugeborenes. Und das heißt auch: Jesus hatte das mit den Alltagssorgen auch. Er musste das mit dem normalen Leben auch hinbekommen. Und das gelang ihm oft gar nicht gut.

Aber dann macht er in Gottes Namen diese kleinen und dann auch großen wunderbaren Dinge. Berührt und nimmt die in den Arm, die seit Jahren keiner mehr angefasst hat. Stellt sich neben die zum Tode Verurteilten und schreit: Dann werft doch eure Steine! Und dann die Bergpredigt, dieser größte Menschheitstraum aller Zeiten. Liebt eure Feinde! Rettet die Flüchtlinge aus dem Meer! Nehmt sie auf! Lasst niemanden verhungern! Lasst keinen Menschen, ob Kind oder Greis, ohne Liebe aufwachsen oder seinen Lebensabend verbringen.

Weihnachten und dann die Geschichte von Jesus: das ist die Urgeschichte der Menschlichkeit. Und heute beginnt sie – wieder. Nein, es ist nicht alles gut. Auch bei Jesus ist nicht alles gut. Er hatte kein Zuhause und nicht immer etwas zu essen. Ein Wunder ist schon, wie er immer wieder selbst durchkommt. Aber dass Liebe möglich ist, dass wir sie leben können, das macht Gott in Jesus allemal klar. 

Das Reich Gottes ist bei Jesus keine Vertröstung auf irgendein Jenseits. Dazu hat es die Kirche später leider manchmal gemacht. Das Reich Gottes ist bei Jesus diesseits, es bricht im ganz normalen Alltagsleben an.

Jesus kennt seinen Vater und er kennt die Ewigkeit. Aus ihr ist er in dieser Nacht in die Welt gekommen. 

Wenn das stimmt, dann spricht alles dafür, in dieser Nacht und ab morgen früh schon so zu leben. Die Liebe in unserem Leben leuchten zu lassen und den Hass zu vergessen. Die wunderbaren kleinen Dinge zu tun. Uns zu berühren oder einander den Raum zu lassen, den jede braucht. Einander festzuhalten und wieder hochzuhelfen. Viel mehr verschenken, Sachen und sogar Geld. Und auch: Vielmehr feiern, einander besuchen und aufeinander achtgeben.

Alles andere zählt nicht. Alles, womit wir uns so wichtig tun und das Leben doch nur schwer machen. Alles, wo wir anderen die Luft zum Atmen nehmen, weil wir zu viel Platz beanspruchen. Alles, was wir anhäufen und verstecken aus Angst, wir stünden am Ende mit leeren Händen da. 

Von heute an, ab sofort: Es zählt nicht, was wir besitzen, sondern was wir verschenken. Nicht, was wir haben, sondern wer wir sind. Nicht, was wir leisten, sondern wer durch uns glücklicher in einen Tag oder die nächste Nacht geht. 

Es geht um diese wunderbaren kleinen Dinge. Ums pure, einfach Glück. Es geht um die Freiheit zur Liebe. 

So hat es Hesekiel geträumt. So hat es Jesus gelebt. 

Weihnachten ist die große Zäsur, die uns sagt: Ab heute alles auf Anfang. Das wahre Leben beginnt heute und jetzt. 

Der alte Mann Hesekiel hat seinen Traum am Morgen aufgeschrieben. Und wir haben darüber nachgedacht, dass es gar nicht so einfach ist, die Träume, die Hoffnungen und Sehnsüchte nicht beiseite zu schieben. Schnell gehen sie im Alltag unter. Der Dichter Rainer Maria Rilke weiß auch etwas von dieser Verbindung von Traum und Mut. In einem Weihnachtsgedicht schreibt er: 

„Und in den Herzen, traumgemut, steigt ein kapellenloser Glaube, der leise seine Wunder tut.“

„Und in den Herzen, traumgemut, steigt ein kapellenloser Glaube, der leise seine Wunder tut.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, der wird unsere Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus.    Alle gemeinsam.    Amen. 

Diese Predigt verdanke ich zu großen Teilen Pfarrer Oliver Albrecht.